Inzidenz
Die Inzidenz ist ein zentraler Begriff in der Epidemiologie und beschreibt die Häufigkeit von Neuerkrankungen innerhalb einer definierten Bevölkerungsgruppe und eines bestimmten Zeitraums. Sie misst das Risiko, eine bestimmte Krankheit neu zu entwickeln. Die Inzidenz ist damit ein entscheidender Indikator, um das Auftreten und die Dynamik von Krankheiten zu überwachen.
Die Inzidenz unterscheidet sich von der Prävalenz: Während Letztere die Gesamtzahl der Krankheitsfälle zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Population angibt (sowohl neue als auch bestehende) und ein statisches Bild der Krankheitslast liefert, ist die Inzidenz ein dynamischer Messwert, der die Geschwindigkeit des Auftretens einer Erkrankung beschreibt.
Welche Inzidenzarten gibt es?
Im Folgenden sind die wichtigsten Arten der Inzidenz aufgeführt:
- Kumulative Inzidenz (Cumulative Incidence): Die einfachste Form der Inzidenz. Sie wird auch als absolutes Risiko oder Risiko bezeichnet. Sie gibt den Anteil der Personen in einer fest definierten, risikobelasteten Population an, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums neu an einer Krankheit erkranken.
- Grundprinzip: Für die Berechnung der Kumulativen Inzidenz muss angenommen werden, dass alle Personen in der Kohorte (der Studienpopulation) über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg beobachtet werden konnten und niemand die Studie verlassen hat. Dies ist in der Praxis selten der Fall, weshalb die Kumulative Inzidenz oft eine theoretische Größe darstellt.
- Formel:
- Anwendung: Sie ist am besten geeignet für Studien mit einer festen Kohorte, in der es wenig oder gar keine Fluktuation gibt (z.B. eine Gruppe von Patienten, die eine bestimmte Operation erhalten hat). Da sie die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung direkt ausdrückt, ist sie sehr intuitiv.
- Beispiel: Eine Studie von JAMA Pediatrics, die die Häufigkeit von post-akutem COVID-19-Syndrom (PASC oder Long-COVID) bei Kindern untersucht hat.
- Inzidenzdichte (Incidence Density): Ein präziseres und in der klinischen Forschung häufiger verwendetes Maß. Sie wird oft als Inzidenzrate bezeichnet. Sie beschreibt die Geschwindigkeit, mit der neue Krankheitsfälle in einer Population auftreten. Im Gegensatz zur Kumulativen Inzidenz berücksichtigt sie, dass Personen für unterschiedlich lange Zeiträume beobachtet werden.
- Grundprinzip: Das zentrale Element ist das Personenjahr (Person-Time). Jede Person trägt zur Gesamtbeobachtungszeit bei, solange sie gesund ist und das Risiko hat, die Krankheit zu entwickeln.
- Beispiel: Ein Patient, der zwei Jahre in einer Studie teilnimmt, trägt zwei Personenjahre bei. Ein anderer, der die Studie nach sechs Monaten verlässt, trägt 0,5 Personenjahre bei.
- Formel:
- Anwendung: Die Inzidenzdichte ist ideal für dynamische Populationen, in denen Personen in die Studie eintreten oder sie verlassen können (z.B. durch Tod, Umzug, Genesung). Sie ist robuster gegenüber dem Verlust von Studienteilnehmern (Loss to Follow-up) als die Kumulative Inzidenz und wird daher in vielen epidemiologischen Studien und Registern verwendet.
- Sekundäre Inzidenzrate (Secondary Attack Rate): Ein spezielles Maß, das vorwiegend in der Infektionsepidemiologie verwendet wird. Wird auch sekundäre Befallsrate genannt. Sie ist ein Maß für die Übertragbarkeit einer Infektionskrankheit. Sie gibt den Anteil der Personen an, die innerhalb eines abgegrenzten Umfelds (z. B. Haushalt, Schulklasse) erkranken, nachdem sie Kontakt zu einem bereits erkrankten Indexfall hatten.
- Formel:
- Hinweis: Personen, die bereits immun sind, werden aus dem Nenner ausgeschlossen.
- Anwendung: Sie ist ein wichtiges Instrument bei der Erforschung von Ausbrüchen, um die Ansteckungsfähigkeit einer Krankheit in der Bevölkerung zu bewahme und geeignete Präventionsmaßnahmen zu planen.
- Standardisierte Inzidenz (Standardized Incidence): Kein eigenständiges Maß für das Auftreten neuer Fälle, sondern eine Methode, um Inzidenzraten vergleichbar zu machen. Sie ermöglicht den Vergleich von Inzidenzraten zwischen Populationen mit unterschiedlicher Altersstruktur. Da das Alter oft ein starker Risikofaktor für Krankheiten ist, können rohe (nicht-standardisierte) Raten irreführend sein.
- Grundprinzip: Bei der Standardisierung werden die alters- oder geschlechtsspezifischen Inzidenzraten einer Population auf eine Standardpopulation (z. B. die Weltbevölkerung, die Bevölkerung der EU) angewendet. Dadurch werden Unterschiede, die ausschließlich auf die demografische Zusammensetzung zurückzuführen sind, eliminiert.
- Anwendung: Unverzichtbar für den Vergleich von Krankheitslasten zwischen verschiedenen Ländern, Regionen oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten (z. B. die Krebsinzidenz heute vs. vor 20 Jahren).
- Beispiel: Ein Bericht des RKI und der GEKID (Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister, seit April 2024 DKR (Deutsche Krebsregister e. V.)), der die Häufigkeit von Krebsneuerkrankungen über einen längeren Zeitraum vergleicht
Klinische Bedeutung der Inzidenz für Ärzte
- Diagnose und Differentialdiagnose: Bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung kann die Inzidenz helfen und somit die Diagnostik unterstützen. Wenn die Inzidenz einer Krankheit in einer bestimmten Region oder bei einer bestimmten Patientengruppe hoch ist, sollte sie als Differentialdiagnose in Betracht gezogen werden.
- Therapieentscheidungen: Die Inzidenz kann Aufschluss über die Häufigkeit von Komplikationen oder Nebenwirkungen unter einer bestimmten Behandlung geben, was die Therapieplanung beeinflusst.
- Prävention und Public Health: Die Inzidenz ist ein Schlüsselindikator zur Überwachung von Infektionskrankheiten. Ein Anstieg kann ein Hinweis auf einen Ausbruch sein und sofortige Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens erfordern. Auch zur Beurteilung der Wirksamkeit von Präventionsprogrammen (z. B. Impfungen) wird sie herangezogen. Ein erfolgreiches Impfprogramm sollte die Inzidenz der entsprechenden Krankheit senken.
- Forschung und Studien: In klinischen Studien wird die Inzidenz oft als primärer Endpunkt verwendet, um die Wirksamkeit einer Intervention (z. B. eines Medikaments) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zu messen